B. Studer u.a.: Das Schweizer Bürgerrecht

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Titel
Das Schweizer Bürgerrecht. Erwerb, Verlust, Entzug von 1848 bis zur Gegenwart


Autor(en)
Studer, Brigitte; Arlettaz, Gérald; Argast, Regula
Erschienen
Zürich 2008: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Anzahl Seiten
421 S., zahlr. Abb.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Beatrix Mesmer

Verschiedene Anstösse haben in den letzten Jahrzehnten zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Schweizer Bürgerrecht geführt. Zum einen wurde im Zuge der Aufarbeitung der Migrations- und Flüchtlingspolitik die restriktive Aufnahmepraxis angeprangert, zum anderen ist neuerdings das Vorgehen der Gemeinden bei der Erteilung des Bürgerrechts auch in der Öffentlichkeit emotionsgeladen diskutiert worden. Es gab deshalb gute Gründe, im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Integration und Ausschluss» (NFP 51) diese Thematik vertieft anzugehen. Der vorliegende Band stellt die Ergebnisse des von Brigitte Studer und Gérald Arlettaz geleiteten Projektes vor und gibt Aufschluss über die konzeptuellen Leitlinien, denen die Mitarbeitenden gerecht zu werden hatten. Dabei handelte es sich nicht nur um methodische Vorgaben, sondern auch darum, rechtshistorische und sozialgeschichtliche Fragestellungen durch eine Reihe von strukturierenden Kategorien wie Gouvernementalität, Biopolitik und Konstruktion des nationalen Raums zu verbinden.

Wie die Autoren bereits einleitend betonen, unterscheidet sich die Schweiz, was die Entstehung und Ausformung des Bürgerrechts betrifft, von den umliegenden Ländern. Das ist nicht nur eine Folge des föderativen Staatsaufbaus und der starken Stellung der Gemeinden, die Mehrsprachigkeit hat sich auch in einer unterschiedlichen Begrifflichkeit niedergeschlagen: «Bürgerrecht» ist ein spezifisch (deutsch) schweizerischer Begriff, der das Gemeinde-, Kantons- und Staatsbürgerrecht integriert und «eine semantisch doppelte Bedeutung sowohl von Staatsbürgerrechten und -pflichten wie von Nationalität» hat. In der französischsprachigen Schweiz fehlt demgegenüber ein einheitlicher Begriff. Hier werden für die drei Ebenen des Staates unterschiedliche Bezeichnungen verwendet, wie folgende Gesetzesformulierung zeigt: «Le citoyen genevois possède le droit de cité d’une commune et la nationalité suisse.» Der Aufbau des Bandes ergibt sich aus diesem komplexen, historisch gewachsenen Bürgerrechtsverständnis. Im ersten chronologischen Teil wird anhand der zeitgenössischen Diskurse die Politik des Bundesstaates «zwischen Konzepten des Nationalen und Ordnung des Sozialen» verfolgt. Im zweiten exemplarischen Teil wird die Einbürgerungspraxis in drei Gemeinden sowie die politisch motivierte Ausbürgerung zur Zeit des Zweiten Weltkrieges dargestellt.

Im jungen Bundesstaat wirkte, wie Regula Argast im Kapitel über die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aufzeigt, die alte Rechtstradition fort, wonach Kantone und Gemeinden über das Ortsbürgerrecht bestimmten, das den Anspruch auf Teilhabe an den Gemeindegütern und auf Armenunterstützung beinhaltete. Bürger einer Gemeinde wurde man durch Abstammung – das ius sanguinis – oder durch Einkauf. Die Bundesverfassung von 1848 respektierte diese auch sozial wichtige Regelung, indem sie festlegte, dass jeder Kantonsbürger auch Schweizerbürger ist. Für die Kohäsion des entstehenden Nationalstaates sorgten die Niederlassungsfreiheit und die rechtliche Gleichstellung der männlichen Schweizer, der als Korrelat die Wehrpflicht entsprach. Deshalb verbot die Bundesverfassung bei Einbürgerungen die doppelte Staatsbürgerschaft, die zu Konflikten über den Militärdienst hätte führen können. Das Bürgerrecht stellte aber auch bereits damals ein Integrationsinstrument dar. So gehörte laut Verfassung die Beseitigung der Heimatlosigkeit zu den Bundesaufgaben. Heimatlose waren Personen, die aus verschiedenen Gründen kein Gemeindebürgerrecht hatten und denen man deshalb Niederlassung und Unterstützung verweigerte. Sie wurden nun zwangsweise eingebürgert, und um neue Heimatlosigkeit zu verhindern, wurde das Schweizer Bürgerrecht als unverlierbar erklärt. Damit schuf die Verfassung jedoch ein neues Problem, da Frauen mit der Heirat das Bürgerrecht des Mannes erhielten, was bedeutete, dass sie bei der Eheschliessung mit einem Ausländer ihr Schweizer Bürgerrecht verloren. Im Vorfeld der Verfassungsrevision von 1874 wurden erstmals Stimmen laut, die vermehrte Kompetenzen des Bundes bei Einbürgerungen forderten. Zu Unmut gaben vor allem Gemeinden Anlass, die Ausländer, die in ihrer Heimat dem Militärdienst entgehen wollten, aus finanziellen Erwägungen gegen hohe Gebühren in ihr Bürgerrecht aufnahmen. Während zentralistische Vorschläge das Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht abschaffen wollten und ein einheitliches Schweizer Bürgerrecht verlangten, beschränkte sich die revidierte Verfassung darauf, dem Bund die Gesetzgebungskompetenz in dieser Materie zu geben. Das Bürgerrechtsgesetz von 1876 führte für Ausländer die Prüfung des Gesuches durch die Bundesbehörden und eine zweijährige Wohnsitzpflicht vor der Einbürgerung ein. Es brachte auch einen ersten Schritt zur Behebung des Bürgerrechtsverlustes von Frauen, die einen Ausländer geheiratet hatten, indem ihnen im Falle der Verwitwung oder der Scheidung, wenn sie in der Schweiz wohnten, die Wiedereinbürgerung erleichtert wurde.

War der Umgang mit Einbürgerungen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts von pragmatischen Erwägungen geprägt, so änderte sich das im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts grundlegend. Gérald Arlettaz, der wohl profundeste Kenner der nun einsetzenden öffentlichen Diskurse, stellt seine Darstellung des Zeitraumes 1898–1933 unter den Titel: «Die ‘Assimilation’, der letzte Zweck für die Gewährung des Bürgerrechts?» Mit dem Ansteigen des Ausländeranteils an der Bevölkerung kam vor dem Ersten Weltkrieg die Sorge über die angebliche «Überfremdung» der Schweiz auf. Sie beschäftigte die Behörden, das Parlament und auch die Wissenschaft. Seit dem Burenkrieg war den Zeitgenossen bewusst, dass bei starker Zuwanderung die Verweigerung der Bürgerrechte zu bedrohlichen innen- und aussenpolitischen Konflikten führen konnte. Als eine Möglichkeit, solche Probleme zu vermeiden, wurde vorerst die Assimilation der Zuzüger durch die Erteilung des Bürgerrechts gesehen. In diesem Zusammenhang wurde das ius soli, die automatische Einbürgerung von in der Schweiz geborenen Ausländern, ernsthaft diskutiert. Freilich liessen sich die verschiedenen in diese Richtung zielenden Regelungen nicht realisieren – nicht zuletzt deshalb, weil der Begriff Assimilation mit immer neuen nationalistischen, kulturalistischen und ethno-rassistischen Inhalten gefüllt wurde. Vor allem während des Ersten Weltkrieges nahm die Abwehrhaltung gegenüber Fremden trotz ihrer sinkenden Zahl zu. Nun wurde Assimilation nicht mehr als Ziel der Einbürgerung, sondern als deren Voraussetzung verstanden, als Erfordernis einer möglichst weitgehenden Angleichung an die in der Schweiz geltenden Verhaltensnormen. Zur Durchsetzung dieses Konzeptes sollte die 1917 geschaffene eidgenössische Fremdenpolizei beitragen. Wie kontrovers die Vorstellungen über schweizerische Identität und den Sinn und Wert des Bürgerrechts waren, zeigt sich an der Flut von Gesetzes- und Verfassungsänderungen in den 20er Jahren, die schliesslich 1931 ins Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) mündeten.

Das von Brigitte Studer verfasste Kapitel über den Zeitraum 1934–2004 knüpft an diese Voraussetzungen an. Es beschreibt die Entwicklung von «einer exklusiven zu einer integrativen Bürgerrechtspolitik», die ebensosehr von externen politischen Faktoren geprägt war wie von einem internen Diskurs über nationale Werte. Die Narrative der Vorkriegs- und Kriegsjahre schlugen sich auch in einer exklusiven Definition des Bürgerrechts nieder. Das Schweizervolk – so der in Einbürgerungsfragen federführende Adjunkt der Eidgenössischen Polizeiabteilung – sei kein Zufallsprodukt, sondern das bewusste oder unbewusste Ergebnis gesetzgeberischer Überlegungen, «und zwar solcher der Auswahl nach Tauglichkeit». Als untauglich galten Mittellose, Flüchtlinge und vor allem Juden. Durch Vollmachtenbeschlüsse wurde auch die Heiratsregel verschärft, Schweizerinnen, die durch Heirat ihr Bürgerrecht verloren, hatten die Folgen dieses Entscheides selber zu tragen, sogenannte Scheinehen von Ausländerinnen, die zum Erwerb des Bürgerrechts einen Schweizer heirateten, konnten nichtig erklärt werden. Zudem wurde die Verfassungsbestimmung über die Unverlierbarkeit des Bürgerrechts vorübergehend ausser Kraft gesetzt, um Personen mit «unschweizerischer Gesinnung» ausbürgern zu können. Erst das neue Bürgerrechtsgesetz von 1952 brachte – auf Druck der Frauenorganisationen – ein Optionsrecht für mit Ausländern verheiratete Frauen, die ihr Schweizerbürgerrecht behalten wollten, sowie die erleichterte Einbürgerung ihrer Kinder, sofern sie in der Schweiz aufgewachsen waren. Im Übrigen wurden die Tauglichkeitskriterien für die Einbürgerung verschärft, die Wohnsitzfrist verlängert und die Eignungsprüfung festgeschrieben. Ab den 60er Jahren nahm angesichts der Notwendigkeit, Arbeitskräfte im Ausland zu rekrutieren, die Furcht vor Überfremdung wieder zu. Die Volksinitiativen, die die Zuwanderung beschränken wollten, wurden zwar abgelehnt, die Behörden sahen sich jedoch – wie bereits vor dem Ersten Weltkrieg – gezwungen, sich mit der Eingliederung der Ausländer zu befassen. Neben vermehrten Assimilationsbemühungen stand nun auch wieder die erleichterte Einbürgerung und ein bedingtes ius soli für die zweite Ausländergeneration zur Diskussion. Während diese Vorstösse scheiterten, setzte man seit den frühen 90er Jahren auf die aktive Integration der Zuwanderer, die nach Erfüllung der gesetzlichen Bedingungen zur Einbürgerung führen sollte. Durch die Verfassungsänderung von 1992 konnten Schweizerinnen nach der Heirat ihr angestammtes Bürgerrecht behalten und auch das Verbot der doppelten Staatsbürgerschaft wurde abgeschafft, worauf die Einbürgerungen stark anstiegen. Wie Brigitte Studer betont, wurde so einerseits dem sozioökonomischen Wandel, anderseits dem dichter werdenden Netz internationaler Normen Rechnung getragen, was auch in der Schweiz zu neuen Formen des «Populationsmanagements» führte.

Wie die eidgenössischen Vorgaben in den Gemeinden umgesetzt wurden, wird im zweiten Teil des Bandes anhand von drei Städten untersucht. Man hätte sich, wie auch die Herausgeber einräumen, freilich auch andere Beispiele vorstellen können als die Grenzorte Basel und Genf, die den höchsten Ausländeranteil der Schweiz aufwiesen, und Bern mit seiner traditionsbewussten Burgergemeinde, die bis 1920, als dieses Recht an die Einwohnergemeinde überging, für die Einbürgerungen zuständig war. Angesichts der sozialräumlichen Gliederung der Schweiz mit ihrer ausgeprägten Gemeindeautonomie wäre der Blick auch auf ländliche und mittelgrosse Gemeinden interessant, dies umso mehr, als wegen der Binnenmobilität auch die Zahl der Schweizer, die ihr Ortsbürgerrecht wechselten, erstaunlich hoch war. Dabei spielte die heimatörtliche Fürsorgeregelung sowohl für Aufnahmepraxis wie für Restriktionen und Gebühren eine Rolle. So ergibt die Untersuchung der Stadt Bern von Erika Luce, dass sich die Burgergemeinde gegenüber Schweizern weniger abweisend verhielt als gegenüber Ausländern. Am Ende des 19. Jahrhunderts, als das Verhältnis zwischen Gemeindebürgern und Zugezogenen sich verschlechterte, wurde die Einbürgerungspolitik der Städte jedoch liberaler. Regula Argast zeigt in ihrem Beitrag über Basel, dass hier sogar aktiv um junge männliche Neubürger geworben wurde. Freilich wurde darauf geachtet, dass die Kandidaten private Versicherungen abschlossen, um die Fürsorgeaufwendungen der Gemeinde niedrig zu halten. In Genf, das von Anina Gidkov behandelt wird, suchte man das Ungleichgewicht zwischen Eingesessenen und Ausländern zu beheben, indem man für die zweite oder dritte Generation ein erleichtertes Einbürgerungsverfahren ins Auge fasste. Mit dem Ersten Weltkrieg gingen die Einbürgerungen dann überall zurück, und in der Folge wich die Bürgerrechtspolitik der Stadtgemeinden kaum mehr von der des Bundes ab. Der Diskurs über Assimilationskriterien und Gesundheitserfordernisse folgte – auch wenn die Gesetzgebung nicht synchron verlief – auf allen Ebenen dem gleichen Muster. Vordringlich blieb die «Überfremdungsbekämpfung», Einbürgerungen wurden durch lange Domizilerfordernisse und Tauglichkeitsprüfungen erschwert. Seit den 80er Jahren setzte dann eine Phase der Intergrationsbemühungen ein, die in Bern und Genf in jüngster Zeit das Einbürgerungsverfahren, im Einklang mit der Sicht des Bundesgerichts, zu einem rekursfähigen Verwaltungsakt machte. Der Abwehrreflex gegen Ausländer, deren Integrationsfähigkeit bezweifelt wird, nahm zumindest in den Städten ab, wobei die Frage offen bleibt, ob es sich dabei um eine gesamtschweizerische Entwicklung handelt.

Der Band schliesst mit dem Beitrag von Nicole Schwalbach über die Ausbürgerungen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die in der Bundesverfassung von 1848 festgelegte Unverlierbarkeit des Schweizerbürgerrechts wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts relativiert, seit 1903 galten Ausnahmeregelungen, die einen Entzug der unrechtmässig erworbenen Staatsangehörigkeit ermöglichten. Die mit der Verfassungsrevision von 1928 dem Bund zugewiesene Kompetenz, den Verlust des Schweizer Bürgerrechts zu regeln, wurde vorerst gegen Scheinehen und Doppelbürger angewandt, bekam dann aber eine politische Dimension. Unter dem Vollmachtenregime erlassene Bundesbeschlüsse erlaubten die Expatriierung von im Ausland befindlichen Personen, die sich gegen die Sicherheit oder politische Unabhängigkeit des Landes vergangen hatten. Mit den Ausbürgerungen wurden so Exempel statuiert und die hohen Konformitätsforderungen verdeutlicht, die mit dem Schweizer Bürgerrecht verbunden wurden.

Die neue Geschichte des Schweizer Bürgerrechts reflektiert in umfassender Weise den aktuellen Forschungsstand und wird wohl für geraume Zeit als Referenzwerk dienen. Ein Glossar und ein chronologischer Überblick über Verfassungen und Gesetze im Anhang ermöglichen auch Lesern, die mit der jüngeren Schweizergeschichte nicht vertraut sind, eine rasche Orientierung. Der Band eignet sich deshalb sowohl als Einstieg in die Thematik als auch – wie in der abschliessenden Zusammenfassung betont wird – als Wegweiser für die politische Praxis.

Zitierweise:
Beatrix Mesmer: Rezension zu: Brigitte Studer, Gérald Arlettaz, Regula Argast unter Mitarbeit von Anina Gidkov, Erika Luce und Nicole Schwalbach: Das Schweizer Bürgerrecht. Erwerb, Verlust, Entzug von 1848 bis zur Gegenwart. Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 372-375.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 372-375.

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